Aufbaukurs Hochtouren August 2015 – oder warum auch zum Besteigen des Pissoirs Steigeisen notwendig sein können


2015 – Ausbildung

Aufbaukurs Hochtouren August 2015 – oder warum auch zum Besteigen des Pissoirs Steigeisen notwendig sein können

Wir (Johannes und Ulrich) sitzen im Mount-Blanc-Express von Martigny nach Montroc-la-Planete und staunen über die bahntechnische Meisterleistung, die Franzosen und Schweizer hier in den Berg gedengelt haben. Noch regnet es in Strömen, doch die Aussichten sind gut. Hans-Eugen, unser topfiter Alterspräsident, stößt dazu. Er hat schon drei Wochen Alpen in den Beinen. Chapeau! Wir akklimatisieren uns im Hotel Olympique, auch an Frankreich: Rotwein statt Pinkus steht auf dem Tisch, bestellt mit dem, was das Französisch im Hinterkopf noch hergibt. Es klappt, wir schlafen gut und tunken zum Frühstück ein Croissant in den Kaffee, wie man es in Münster vergeblich sucht.  Das Thermometer zeigt 5 °C, aber die Sonne strahlt mit uns um die Wette. Es geht aufwärts, 1.200 m, Ziel ist die Refuge Albert 1er.  Dreieinhalb Stunden später begrüßt uns Chief Commander Volker auf’m Sonnendeck. Unter uns türmt sich der Eisbruch des Glacier du Tour auf, hinter uns ragen diverse Aiguillen in den blauen Himmel. Jost hat seine Ausrüstung auch nach oben gewuppt, wir sind komplett. Es ist angerichtet für fünf Tage vis-à-vis des Mont Blanc – zunächst aber kulinarisch. Couscous mit Ente und Chorizo an mediterranem Gemüse, davor eine Linsensuppe („gewagt, gewagt!“ denken wir, aber die Befürchtungen verflüchtigen sich schnell), hintendrein mit viel französischem Charme gebackener Kuchen. Sind wir im „Giverny“? Nein, aber entzückt, auch von der neu renovierten, stylischen Hütte und dem jungen, fröhlichen Team um Paul, das alles wunderbar im Griff hat.
Volker zückt den Zettel mit dem Wochenprogramm: Fünf Tage, fünf Touren. Das klingt gut. Das Herzklopfen in der ersten Nacht hat aber andere Gründe: Die Matratzenhöhe liegt mit rund 2700 m  deutlich über dem Münsterland. Trotzdem stapfen wir frohen Mutes zum Frühstück, um 6 Uhr gehören wir zu den letzten.  Haben die vor uns alles abgeräumt? Volker hatte uns schon gewarnt: das petit dejeuner sei französisch. Ist es auch: Kaffee, Cornflakes, Honigkuchen, Baguette mit Marmelade. Um 7 Uhr ist Abmarsch, na ja, einige Minuten später. So mancher Ablauf will noch optimiert werden. „Lose Rolle, Selbstrettung mit Garda-Knoten, läuft?“. Bei zweien von uns sind die Fragezeichen größer als die Gletscherbrille. Also gibt es 1x1 des Alpinismus hochkomprimiert. Und natürlich muss jeder in die Spalte. Das treibt nicht nur den Puls in die Höhe, sondern verschafft dem Gletscher auch den nötigen Respekt. Damit und mit einem abermals formidablen Dinner sind die Grundlagen für den ersten Tourentag gelegt. Es geht durch das Spaltenlabyrinth des Glacier du Tour mit Ziel Bec rouge superieur. Volker übernimmt nochmal das Kommando, auf 3050 m schlagen wir ein. Coolio, erster Gipfel. Zumindest ein kleiner, ungefähr wie der Vorbergshügel gegenüber dem Teuto. Es ist erstaunlich frisch, der Wetterfrosch war etwas zu optimistisch. Wolken ziehen auf, also Rückzug. Wir stehen auf dem Gletscher, das eben noch klare Ziel verschwindet im Nichts. Zum Glück wärt der Spuk nicht lange, es lichtet sich alles und wir sind um eine wichtige Erfahrung reicher. Aber das sollte nicht die letzte für heute sein. Wir steigen zum Gletscherbruch ab, das Bier auf der Hütte scheint zum Greifen nah. Denkste! Plötzlich Spalte vorne, Spalte hinten. Gestern war Kinderfasching, heute ist Ernstfall. Die Ansagen von Volker werden entsprechend deutlich. „Seil stramm halten! Oder wollt ihr euch gegenseitig Karten mit schwarzen Rändern schicken?“. Eisschrauben kommen zum Einsatz, „Brücken“ werden gebaut, über die wir uns sukzessive vorwärtsarbeiten. Am Ende sitzt der Prusikknoten und den Sackstich dahinter vergisst fortan auch keiner mehr.
Damit wir den Rest des Tages nicht nur mit leckerem Kuchen auf dem Sonnendeck oder in den Fatboys herumlümmeln, gibt’s Hausaufgaben: Routenplanung für die Tour auf die Tête Blanche. „Aber nicht über die Autobahn, sondern auf dem Winterweg, Freunde!“. Höhenmeter und Entfernungen werden gemessen, Umkehrpunkte definiert, aber Anseilpunkte vergessen. Es kommt immerhin eine auf dem Papier ganz clevere Planung dabei heraus. Wir sind zufrieden. Es soll wolkenlos und warm werden, also 4.30 Uhr Frühstück, 5.30 Uhr Abmarsch. „Bonne nuit!“.
Jost wird zum Chef de Mission bis zum Gipfel ernannt. Wir stapfen los. Zunächst halten wir stramm die berechnete Route ein, es läuft gut. Die von uns vorgesehene Direttissima ist aber doch steiler als gedacht. Wir weichen auf die flachere, scheinbar einfach zu gehende Mulde aus. Denkste, alles voller Spalten, und zwar ordentliche mit reichlich Platz für alle. Entsprechend deutlich werden die Ansagen, wenn die Seildisziplin mal wieder zu wünschen übrig lässt. Jost manövriert uns cool und souverän durch das Spaltenlabyrinth und bis auf den 3429 m hohen „Weißen Kopf“. Uns zu Füßen liegt das vergletscherte Plateau de Trient und der Blick reicht vom Eiger über den Grand Combin bis zum Mont Blanc. Wow! Auf der „Autobahn“ geht es in gut eineinhalb Stunden durch feinsten Sulz zurück zur Hütte. Wir haben Lust auf mehr. Und Hunger. Das charmante Hüttenteam enttäuscht uns nicht.
Volker grinst. Er hat eine Idee für den vorletzten Tag: die Umrundung der Aiguille du Tour, zur Hälfte durch unbekanntes Terrain, das wir mutmaßlich für uns alleine haben. Hüttenchef Paul findet die Idee spannend, wir sind gespannt, was da auf uns zukommt. Mindestens zehn Stunden, soviel steht schonmal fest. Die Wetteraussichten? Wieder „Grand beau“, also früh in die Heia. Der Wecker steht auf sportlichen 3.50 Uhr. Johannes schaltet auf der „Autobahn“ zum Col Superieur du Tour den Tempomat ein. Es läuft rund und wir sind unter den ersten am Col. Wir müssen uns also nicht einreihen und keiner kann uns Steine auf den Kopf rieseln lassen. Zufrieden blinzeln wir in die Morgensonne und auf das sanfte, strahlend weiße Plateau de Trient. Die meisten Höhenmeter liegen schon hinter uns. Kurz danach zweigen wir vom Highway ab und stapfen über festen Firn zum Pissoir. In doppelter Hinsicht erleichtert sehen wir, dass wir ziemlich smooth auf den Glacier du Grands absteigen können. „Geile Meile!“ – Volker läuft zu Hochform auf und zieht zielstrebig auf eine steile Flanke zu, die uns einen spaltenreichen Umweg ersparen könnte. Genau an der richtigen Stelle weist der Bergschrund eine Brücke auf, die Flanke darüber hat guten Trittfirn. Es geht flott nach oben, doch nur zur Hälfte. Ab hier folgt loser Schrott, der vor wenigen Jahren noch gut gesichert unter Eis lag. Der Klimawandel lässt grüßen – nicht nur hier. Erschreckend, wie viel Masse und Meter die Gletscher in den letzten Jahren verloren haben. Die Kartographen kommen nicht mehr hinterher.  Vorsichtig arbeiten wir uns nach oben, so mancher Stein purzelt dennoch. Nicht leicht, hier überhaupt verlässliche Blöcke für die Sicherungen zu finden. Oben angekommen strahlt Volker mit der Sonne um die Wette: Die Mühe hat sich gelohnt, der Abstieg auf der anderen Seite ist entspannt, und wir blicken auf eine grandiose Landschaft aus Eis und Fels und ein türkisblaues Seechen. Wir sind uns einig: einer der wunderbarsten Ausblicke ever! Da schmeckt der Kuchen nochmal so gut. Gut, dass wir vor rund acht Stunden davon reichlich eingepackt haben.  Frisch gestärkt nehmen wir noch die Aiguille du Génépi  mit, auch um später den gleichnamigen Liqueur auf der Sonnenterasse genießen zu können. Dort kommen wir schließlich nach zwölf Stunden glücklich und um viele Erfahrungen und bleibende Eindrücke reicher an. Es bleibt nicht bei einem Bier.
Die Motivation, die müden Knochen am nächsten Tag wieder vor dem ersten Krähen der Alpendohlen aus dem Bett zu schwingen, ist begrenzt. Aber wieder ist auf der Wettertafel in der Hütte nur eine Sonne zu sehen. Blieben wir liegen, würden wir es kurz danach sicher bereuen. Wir geben uns einen Ruck und schalten um 5 Uhr die Stirnlampen an. Zweieinhalb Stunden später kommen uns fast die Tränen, als wir wieder auf dem Col Superieur du Tour stehen und sich bei unglaublich klarer Sicht die gesamte Prachtkulisse und endlich auch die „Kirche“ des Matterhorns zeigt.  Doch wir wollen das volle 360°-Kino. Das gibt es nur auf dem Gipfel. Als inzwischen gut eingespieltes Team geht es flott voran und über die fußbreite Brücke über den  Bergschrund auf die felsige Gipfelpyramide. Am gleitenden Seil sind wir schnell oben – und haben den Gipfel und den grandiosen Rundumblick für einige Minuten für uns alleine. Der Hämmer! Die schmale Brücke über den Bergschrund hält auch beim Abstieg und so sitzen wir schon knapp zwei Stunden später wieder auf der Sonnenterrasse und heben die Tassen in den strahlend blauen Himmel. Schöner könnte diese Woche nicht enden. Volker, c’etait formidable, merci!

Johannes Wahl


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