Über den "Papstweg" auf das Dach der Alpen


2021 – Hochtouren

Über den "Papstweg" auf das Dach der Alpen

Es gibt wirklich, wirklich viele Wege, den Mont Blanc zu besteigen. Soviele, dass man mit den Routen alleine ganze Bücher füllen kann. Von ziemlich leicht (mit den Worten von Joe Simpson: "Sturz ausgeschlossen, es sei denn, man wird erschossen!") bis ziemlich schwer (wohl nur ein Astronaut wie Ueli Steck konnte sich die Zeit nehmen, während seiner 5:30 Stunden Blitz-Besteigung des Innominatagrats auf dieser Route noch eine gemütliche Kaffeepause auf der Monzino-Hütte einzulegen, um erstmal richtig wach zu werden).

Klaus hatte schon länger ein Auge auf den Tournette-Sporn in der Westflanke geworfen. Kaum begangen, mit einer abenteuerlichen Übernachtung im Sella-Biwak, so abgelegen, dass das dortige Hüttenbuch vergammelt, bevor es vollgeschrieben ist. So begeisterte er auch mich für diese Route. Natürlich wollte ich schon lange gerne auf den Mont Blanc, aber selbst mir als passioniertem Solo-Hochtourengänger ist der Schneehatscher über die Gouter-Route bisher noch zu heiß gewesen. So ein Spaltensturz ist ohne Seil ein ziemlich einzigartiges und tiefgehendes Vergnügen. Aber mit einem wie Klaus am Seil ließe sich was spannendes aus der Taufe heben.

Während wir also nach einigen Vorbereitungs-Touren (zwei wegen schlechter Schneeverhältnisse gescheiterte Versuche am Mont Dolent sowie Grand Combin und einem TRAUMTAG auf den Aiguilles Tres-la-tete) auf dem Camping im Val Veny weilten und uns für die Besteigung des Mont Blanc ausruhten, bereitete mir der geplante Anstieg einige unruhige Momente im Schlafsack: Der Glacier du Mont-Blanc ist berüchtigt für seinen extremen Steinschlag im untersten Teil. Selbst jetzt, so früh in der Saison, würde es wohl kräftig poltern, wenn wir einen zu warmen Tag erwischen würden oder zu spät am Einstieg wären. Dann die Spaltengefahr im oberen Teil des Gletschers. Der Tournette-Sporn selber, der fast direkt unterhalb des Mont Blanc- Gipfels auf den Bosses-Grat einmündet, wäre dann relativ leichte Kletterei ohne Seil, dort könnte man eh nicht sinnvoll sichern, selbst wenn man wollte.

Aufbruch früh morgens um drei: Wir parken das Wohnmobil soweit oben an der Straße zum Lac Combal wie so eben noch erlaubt und latschen los. Noch im dunkeln stolpern wir über die Seitenmoräne des Glacier du Miage, einem mächtigen, großteils mit Schutt bedeckten Eisstrom. Dann stehen wir im Morgengrauen mittendrauf auf dem mit über 10 Kilometern längsten Gletscher Italiens. Und man versteht sofort, warum hier alle vom Himalaya der Alpen sprechen: Es hat hier atemberaubende Dimensionen. Gigantische Dimensionen. Auf beiden Seiten wachsen die Wände und Felszacken in den Himmel und man kommt sich sehr, sehr klein vor. Die Gänsehaut habe ich vielleicht auch aufgrund der kühlen Brise, die über den Gletscher zu Tale kriecht.

Um Punkt 7:00 Uhr stehen wir am Einstieg. Die Eiszunge des Glacier du Mont Blanc, die hier in den Glacier du Miage einmündet, ist blank. Pechschwarzes und knüppelhartes Eis. Und überall liegen diese medizinballgroßen Eis- und Felsblöcke herum, die von oben wie durch einen Trichter gelenkt hier herunterkommen. Das schüchtert mich ein: Einer von denen reicht und man müsste uns wahrscheinlich anhand der Schuhgröße identifizieren, wenns knallt. Wir sprechen in dem Moment nicht groß drüber, aber ich bin ein Bauchmensch und mein Bauch sagt in diesem Moment: Heute nicht. Also sage ich nur kurz und knapp: "Da geh ich nicht hoch, das gefällt mir nicht." Und es ist vollkommen okay. War vorher so abgesprochen und so wird es durchgezogen, wenn einer von uns beiden ein schlechtes Gefühl hat, gehen wir die Alternative an: Weiter auf die Gonella-Hütte und dann über den italienischen Normalweg zum Gipfel, den "Papstweg". 

Also nicht lang rumquatschen, der Weg ist noch weit. Das wirklich schöne ist in dem Moment, dass man die Wanderung über den Miage-Gletscher wirklich genießen und nach Herzenslust staunen kann. Es gibt keine wirkliche Spaltengefahr, der Gletscher ist eine flache und leicht zu begehende Autobahn mitten rein ins Herz des italienischen Mont Blanc- Gebiets. Als er nach einigen Kilometern aufsteilt, weichen wir nach Norden in die Felsen aus. Es folgt ein kurzweiliger und spaßiger Kraxel-Weg durch die Felsen hoch zur Gonella-Hütte. Diese ruht wie ein Adlerhorst auf 3.071m Höhe auf dem Felsrücken der Aiguilles Grises, eingezwängt zwischen dem Glacier du Miage und dem vom Dome du Gouter herunterziehenden Glacier du Dome.

Wir erreichen die Hütte gegen halb zehn Uhr morgens und sind mit Wirt Mauro und Tausendsassa Davide alleine. Die Bergsteiger sind entweder längst am Gipfel oder brechen gerade erst unten im Tal auf. Wir sind sozusagen antizyklisch unterwegs. Ich schließe die Hütte und deren Personal direkt ins Herz. Es ist urgemütlich trotz der modernen Architektur, die Aussicht ist fantastisch und wir bekommen morgens um zehn knackfrische, hausgemachte Pasta Aglio-Olio mit Parmesan. Wär ja auch fast Mittagszeit nach unserer frühen Aufbruchszeit.

Wir schmieden einen Plan: Wir wollen direkt das Pasta-Koma nutzen, um den Tag hindurch zu schlafen oder wenigstens zu ruhen, dann gegen sechs Uhr Abendessen, nochmal hinlegen bis halb neun, fertig machen und dann um zehn Uhr spätestens los. Dann wären wir zum Sonnenaufgang am Gipfel. Klaus weiß, wovon er redet, er geht diese Route bereits zum dritten Mal. Der Haken an der Sache ist nur: Man kann in einer Hütte tagsüber nur schlecht schlafen, wenn pausenlos Betrieb herrscht. Also döse ich mehr vor mich hin. Kann dann gegen Abend sowieso gar nicht mehr schlafen, weil die freudige Erregung vor diesem Abenteuer mich packt: Im Mount Everest- Style die ganze Nacht hindurch auf den Gipfel steigen! Mir ist irgendwo im Hinterkopf ganz diffus schon bewusst, dass das den Großteil der Nacht kein Spaß wird.

Abendessen gegen 18:00 Uhr und dann Frühstück um 21:00 Uhr ist schon sehr merkwürdig, aber ich trinke soviel Kaffee, wie Mauro freiwillig hergibt. Seit der mehrfachen Lektüre meines Lieblingsbuchs "Bekenntnisse eines Nachtsportlers" von Wigald Boning nehme ich in weiser Voraussicht einige kleine Packungen mit Honig und Marmelade mit, als Notreserve. Falls doch irgendwann der Mann mit dem Hammer kommen sollte. Zudem haben wir kaum Wasser im eigentlichen Sinne im Gepäck: Wir mixen uns jeder 2 Flaschen mit Vitargo Carboloader, aufgrund des zartrosa Farbtons von mir nur "Einhornmilch" genannt, die konzentrierte Energie des Universums. Dieses klebrige Zeugs, das leicht nach Chemie riecht und noch mehr danach schmeckt, tritt einem nochmal so richtig in den Hintern, wenn man davon trinkt. Ein wahrer Zaubertrank!

Wir treten um kurz vor zehn in voller Montur und bereits angeseilt vor die Hütte. Geweckt haben wir niemanden, das sei hier versichert, wir wissen uns im Matratzenlager zu benehmen und haben den gesamten Krempel bereits vor dem Abendessen in den Schuhraum geschafft. So mussten wir nur noch unsere Schlafsäcke mit runter nehmen und dort einpacken. Wir sind dermaßen "früh" unterwegs, dass wir am Horizont immer noch Reste des Sonnenuntergangs erkennen können. Meine innere Uhr ist inzwischen sowieso völlig durcheinander, gefühlt ist es früh morgens nach einer durchzechten Nacht.

Ziemlich bald wird aus unserer Tour eine ernsthafte alpine Unternehmung: Der Weg den Glacier du Dome hinauf zum Pitons des Italiens ist hier der gefährlichste Abschnitt der gesamten Besteigung. Der Gletscher liegt noch relativ niedrig im unteren Teil, sodass er tagsüber in diesem Bereich völlig aufweicht. Durch unsere frühe Aufbruchzeit konnte er nun jedoch auch noch nicht wieder richtig "anziehen", also festfrieren, sodass wir uns anfangs noch durch Sulzschnee quälen müssen. Und dann kommen die weiteren Folgen der Erwärmung im Hochgebirge dazu: Nass- und Gleitschneelawinen sowie Steinschlag von den Hängen von oberhalb unserer Route in unsere Spur hinein. Das Grollen und Rumpeln in der Dunkelheit um uns herum, das Geräusch abgehender Lawinen und Felsen war ganz schlimmer Nerventerror für mich, hat mir nachhaltig schlaflose Nächte beschert. Man muss aber dazu sagen, dass hier auch nur mein ganz subjektiver Eindruck geschildert wird und jeder für sich, ganz alleine, seine Komfortzone beim Bergsteigen hat, und das ist ja auch gut so.

Was für ein erhabener Moment dagegen, als wir oben am Piton des Italiens, einem knapp 4.000m hohen Punkt zwischen Dome du Gouter und Aiguilles de Bionassay, noch in tiefster, pechschwarzer Nacht auf den scharfen Firngrat treten und fast 3 Kilometer tief nach Frankreich hinunterschauen können, wo die Lichter von Les Houches und Chamonix wie Sterne funkeln. Das sind Momente, die man hinterher wohl als atemberaubend beschreiben würde. 

Es folgt ein Abschnitt, an den ich nur diffuse Erinnerungen habe, da ich hier meinen toten Punkt in dieser Nacht hatte, wohl auch dem sinkenden Adrenalinspiegel nach der vorhergehenden vogelwilden Gletschertour geschuldet. Ich hatte einige Situationen, in denen ich wie ferngesteuert gelaufen bin, fast wie im Halbschlaf. Umso erstaunlicher, wenn ich bedenke, dass dort oben in dem Abschnitt eiskalte, sturmartige Böen herrschen, die durch die umliegenden Gipfeln auf dem Grat kanalisiert werden. Auch gibt es ab diesem Punkt keine höheren Strukturen oder Gipfel mehr, die Schutz vor dem Wind bieten. Von nun an bis zum Gipfel sind wir dem schneidenden, kalten Westwind gnadenlos ausgeliefert. 

Am Dome du Gouter vereint sich der Papstweg mit dem französischen Normalweg, der Gouter-Route. Ich erwarte eine Völkerwanderung und werde positiv überrascht: Es ist verhältnismäßig wenig Betrieb, vielleicht auch der Corona-Situation geschuldet. Es hat aufgrund der reduzierten Hüttenkapazitäten einfach krass weniger Leute am Berg. Wir gehen eisern unser eigenes Tempo, langsam, aber stetig. Öfter werden wir nun von einzelnen Trüppchen überholt, auch einigen Einzelgängern. Ein Bergsteiger aus dem arabischen Raum blieb mir im Gedächtnis: Mit einem winzigen Rucksack und kurzen Hosen rennt er an uns vorbei nach oben, einen flotten Spruch auf den Lippen. Sah eher aus wie einer, der sich beim Trailrunning verlaufen hat. Aber auch das ist der Mont Blanc, ein Magnet für Spinner, verrückte und Genies.

Nach dem Vallot-Biwak wird es zäh, richtig zäh. So langsam graut der Himmel leicht auf, man sieht Wolkenformationen vor dem fahlen Himmel, ein Farbenspiel beginnt, das seinesgleichen sucht. Das sind die Momente beim Bergsteigen, die schnell kitschig wirken in Berichten und Erzählungen. Und doch sind und bleiben diese Momente einfach unbeschreiblich schön.

Wir kämpfen uns nun jeder in seinem eigenen Tempo den aufsteilenden Bosses-Grat hinauf. Er ist viel steiler, als ich erwartet habe, jedoch dermaßen planiert und präpariert von den lokalen Bergführern, dass selbst der allerletzte Bürohengst aus Wanne-Eickel noch hinaufkäme. Technisch ist dieser Teil der Route in etwa so schwierig wie ein Fahrrad zu besteigen. Hier haut einen eher noch die Höhe und die eisenharte Kälte aus den Socken. So ab ungefähr 4.500m Höhe merke ich nochmal deutlich einen Leistungseinbruch. Ich setze meine Sturmhaube auf, um überhaupt einigermaßen vernünftig atmen zu können. Der Wind ist unbeschreiblich kalt, ich bin umso mehr erstaunt, dass ich einigermaßen warm bleibe am Körper, trage ich unter meiner Daunenjacke doch nur ein Merino-Unterhemd. Das zeigt mir, dass der Körper wie ein Ofen auf Hochleistung läuft. 

Apropos lokale Bergführer: Das sind wirklich Astronauten! Jeder von denen hat im Schnitt 2-3 Kunden im Schlepptau und zieht diese wie eine Dampflok mit gefühlten 3000 PS Richtung Gipfel, und dann haben die auch noch die Luft und die Höflichkeit, mich freundlich zu Grüßen und sich zu bedanken, dass ich Platz mache. Man erkennt auch anhand der nicht vorhandenen Ausrüstung am Gurt der Kunden auf einen Blick, wer von denen wahrscheinlich noch nie vorher so eine Tour gemacht hat. Der Klettergurt wird nur getragen, um angeseilt gehen zu können, den Eispickel halten einige eher wie einen Regenschirm. 

Das vetrackte am Bosses-Grat ist sein Verlauf: Immer wieder denkt man am Gipfel zu sein, und dann kommt nochmal ein Aufschwung, und nochmal, und nochmal. Das ist schon etwas zermürbend. Inzwischen sind wir seit knapp 7 Stunden ohne Pause unterwegs, die Einhornmilch in meinen Rucksack ist zu Slushed Eis gefroren. Aber Durst oder Hunger verspüre ich sowieso nicht. Das Konzept von Essen und Trinken kommt mir im Moment ziemlich fremd vor.

Und dann wird der Himmel vor mir Feuerrot, da fehlen mir jetzt die sprachlichen Mittel, um es treffender zu beschreiben. Der Himmel explodiert vor Farben, und plötzlich bin ich tatsächlich oben angekommen, der Grat wird flacher. Und genau in dem Moment geht die Sonne auf und mich treffen erste Strahlen. Ein seltsam entrückter Moment, als ich relativ alleine da oben stehe, nur ein paar weitere Bergsteiger sind noch da, und Klaus ein Stück hinter noch im Aufstieg. Nach 8 Stunden Aufstieg über 1.800 Höhenmeter stehe ich auf dem Gipfel des Mont Blanc. Und da passiert es tatsächlich: Mir kommen Tränen. Weil es so ein Naturschauspiel um mich herum ist, mit dem Sonnenaufgang und so weiter. Mit dem Gipfel an sich. Mit den ganzen Strapazen und dem Stress und der Anspannung, alles fällt von mir ab und ich bin so erfasst und gerührt von dem Augenblick, da kommen mir halt die Tränen. Als Klaus dann neben mir steht und wir uns die Arme fallen, weiß ich nicht so genau, obs bei ihm der Wind in den Augen ist oder auch die Gefühlslage. Plötzlich verstehe ich, warum Fußballspieler weinen. Lange können wir jedoch nicht bleiben, da der Wind wirklich bärbeissig kalt ist, nach jedem einzelnen Foto müssen wir schnell wieder für einige Minuten die Handschuhe anziehen. Würden wir diese hier verlieren, hätte das katastrophale Folgen für unsere Hände (wir haben natürlich noch Ersatzhandschuhe dabei gehabt).

Den ganzen Abstieg hindurch laufe ich wie auf Wolken, obwohl ich gerade harten Raubbau an meinem Körper betreibe, Schlafmangel, Kaloriendefizit, scheissegal. Was für ein Tag! Was für eine Tour!  Lachend grüße ich jeden, der mir entgegenkommt. Da oben gehört man auch irgendwie zusammen, egal woher man kommt oder wohin man geht. Ein seltsames Gefühl von Schicksalsgemeinschaft in dieser Eis- und Felswüste in fast 5 Kilometern Höhe. Aber auch das ist Bergsteigen!

Wir sind am gleichen Tag, nur mit einer kurzen Mittagspause an der Gonella-Hütte, noch den ganzen Weg zum Wohnmobil abgestiegen, an welchem wir gegen 16.30 Uhr ankommen. Auf dem Weg bin ich noch schnell in den einladend plätschernden Doire de Veny gsprungen, den Fluss, der vom Lac Combal talwärts fließt. Das weckt meine Lebensgeister und ich merke gar nicht mehr, dass wir seit fast 36 Stunden ohne richtigen Schlaf unterwegs sind, erst als wir auf der ersten Autobahn sind, fallen mir die Augen zu. Aber irgendwann ist es ja auch mal gut gewesen.

Johannes Aufgebauer

 


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